Nachlese 2023 Kongress der Deutschen Marktforschung 2023
Daten über Daten und kein Ende –
Wie Research Analytics Überblick und Orientierung schafft
Im Mittelpunkt steht der Mensch
Datenskepsis, Kreativität und Mut sind gefragt
Wie schaffen wir es, nicht im Datenmeer zu ertrinken? Eine Antwort auf diese immer stärker werdende Herausforderung gab der Kongress der Deutschen Marktforschung 2023, der am 14. Juni in der Nationalbibliothek in Frankfurt am Main stattfand. Rund 200 Kolleginnen und Kollegen kamen, um sich über die vielfältigen, kreativen und innovativen Möglichkeiten moderner Research-Analytics-Tools zu informieren. Und sie wurden nicht enttäuscht: Vier inspirierende Keynotes, sechs Praxisvorträge im PechaKucha-Format und fünf Vorträge aus den Wettbewerben für herausragende (Branchen-)Leistungen waren der Garant für ein spannendes Programm voller neuer und überraschender Impulse. Das Besondere in diesem Jahr: Nach dem Auftakt zum Kongress mit Mitgliederversammlung und Get-together am Vortag folgte das Fachprogramm komprimiert an einem Veranstaltungstag.
„Kürzer, kompakter und konzentrierter“ sei der diesjährige Kongress der Deutschen Marktforschung, aber inhaltlich nicht weniger relevant, so Moderator Hendrik Hübschen anlässlich der Kongresseröffnung. Thematisch wird das Meer der Daten oder auch die Überforderung durch die Datenflut im Fokus der Veranstaltung stehen. Die Branche begegne dieser Herausforderung mit Gelassenheit und Selbstbewusstsein – und dieser positiv-optimistische Umgang ziehe sich auch durch den gesamten Kongresstag, kündigte Hübschen an.
Wegen des Angebots an zu vielen Daten versuche die Gesellschaft zu simplifizieren, betonte auch BVM-Vorstandsmitglied Christian Thunig. Ein wichtiger Auftrag der Marktforschung sei es daher, das Feld zu sortieren und gute Studien herauszubringen, die vernünftig sind. Worauf es dabei ankommt, zeigten dann die ersten beiden Fachleute des Tages aus ihren unterschiedlichen Perspektiven:
Den Anfang machte Dr. Teresa Kubacka: Die Physikerin und KI-Spezialistin rief in ihrer Keynote dazu auf, in Zeiten schier unbegrenzter Datenfülle „positiv skeptisch“ zu bleiben. Anschaulich verdeutlichte sie anhand einer Beispielanalyse, dass Daten oft hilfreich sind, aber die Realität nur eingeschränkt widerspiegeln.
Um für Kunden Mehrwert zu schaffen und ihnen zu besseren Entscheidungen zu verhelfen, sei daher ein gesundes Maß an Datenskepsis erforderlich, so die Referentin. Der Mensch müsse die Entscheidungen treffen und im Mittelpunkt sinnvoller Datenarbeit stehen: „Daten sind ohne menschliches Urteilsvermögen, ohne menschlichen Kontext bedeutungslos“, resümierte Kubacka.
Die Zukunft ist menschlich!
Auch die zweite Keynote –Digitalpionierin Andera Gadeib – stellte den Menschen in den Mittelpunkt der Digitalisierung
Sie rief in ihrem Vortrag zu einem „positiven Angriff“ auf, zum Mut, sich das Meer der Daten zu nutze zu machen. Um Orientierung in der Datenflut zu schaffen, sei es wichtig, die richtige Forschungsfrage zu stellen. „Es geht nicht darum, Daten zu nutzen, weil sie einfach da sind, sondern weil sie eine Forschungsfrage beantworten.“ In diesem Zusammenhang käme dem Verknüpfen der Daten eine wichtige Rolle zu: „Daten sind die Basis, aber erst der Kontext macht daraus eine Information. Und diesen Kontext, unser Erfahrungswissen, unsere Insights addieren wir!“, so Gadeib. Die Zukunft sei menschlich, zeigte sich die Online-Enthusiastin überzeugt. Mensch und Maschine müssten Hand in Hand arbeiten, mit dem Ziel, die Zukunft der Menschen mithilfe der digitalen Errungenschaften weiter nach vorne zu bringen, so ihr aufmunterndes Fazit.
Der Mensch als Deuter der Realität
Und auch die Marktforschungspraxis kam nicht zu kurz: Unter dem Motto „Was können folgende Methoden wirklich?“ folgten sechs PechKucha-Vorträge, die sich ebenso komprimiert wie kreativ mit Trends der Branche auseinandersetzten. In zeitlich exakt begrenzten Redebeiträgen präsentieren Marktforschungsprofis ihre unterschiedlichen Forschungsansätze.
Dabei standen unter anderem Themen wie Commercial Effect Modelling, automatisierte Datenverarbeitung, Netzwerkanalyse und Datenfusion sowie Heuristic Modeling im Zentrum der Ausführungen. Im Anschluss stimmten die Kongressbesucher/innen über den besten Kurzvortrag ab, der dann in einer weiteren Session vertieft wurde: Die Wahl fiel auf Dirk Engel mit seinem Beitrag „Multi-sourced Heuristic Modelling: Warum Dashboards nicht immer den Überblick bringen und wie gute Sozialforschung zur Reduktion der Komplexität beitragen kann“. Engel zeigte die Grenzen von Dashboards auf und plädierte für den Einsatz Heuristischer Modelle, um komplexe Sachverhalte sinnvoll zusammenzuführen und darzustellen. „Marktforscher/innen sollten ihre Rolle als Weltendeuter und Marktinterpreten stärker betonen, anstatt sich von Big Data in die Defensive drängen zu lassen“ so Engel.
Preise für ausgezeichnete Branchenleistungen
Viel Aufmerksamkeit bekamen dann die Gewinner/innen der in diesem Jahr ausgelobten Preise:
Der Best of FAMS-Preis, jährlich vergeben von ADM, BVM und DGOF, ging an Auszubildende des Joseph-DuMont-Berufskollegs (JDBK) aus Köln, die sich in ihrer Einreichung mit dem Thema „Evaluation des Distanzunterrichts während der Covid-19-Pandemie 2020/21 an unterschiedlichen Schulformen“ beschäftigt hatten. Mehr zum Gewinnerteam und dem Wettbewerbsbeitrag
Im Anschluss wurde der Preis der Deutschen Marktforschung 2023 vergeben:
Für ihre akademischen Leistungen wurden Jessica Wagner (beste Magisterarbeit) und Dr. Melanie Clegg (beste Dissertation) als Nachwuchsforscherinnen 2023 – BVM/VMÖ/SWISS INSIGHTS ausgezeichnet. Mehr zu den Preisträgerinnen und ihren Einreichungen
Den renommierten Innovationspreis 2023 gewannen Caplena und Beiersdorf für ihren Wettbewerbsbeitrag "Was treibt die Sterne(-Bewertung)? KI-gestützte Treiberanalyse von Hansaplast-Amazon-Reviews". Mehr zu den Gewinnern und ihrem Wettbewerbseitrag
Nicht jeder, der gerne isst, ist ein guter Chefkoch!
Bevor der letzte Preis des Tages verliehen wurde, stand ein anregender Austausch über ein zentrales Branchenthema im Fokus: Betriebliche Experten diskutierten über die Rolle der modernen Marktforschung im Marketing. Das Ergebnis: Gute Kooperation und ein gemeinsamer Erkenntnisgewinn sind wichtig, um Menschen und deren Entscheidungen zu verstehen. Die Wertigkeit der Marktforschung muss betont werden: Marktforschung ist ein Handwerk, das man lernen muss – denn nicht jeder, der gerne isst, ist auch ein guter Chefkoch! Und: Die Marktforschung liefert keine Daten, sondern Antworten auf relevante Fragen.
Persönlichkeiten des Jahres 2023
Last but not least folgte eine ganz besondere Preisverleihung, die nicht jedes Jahr vergeben wird, „sondern nur, wenn sich jemand als besonders würdig herausgestellt hat, diese Auszeichnung zu erhalten“, betonte BVM-Vorstandsvorsitzender Dr. Frank Knapp: Als Persönlichkeiten des Jahres 2023 wurden Anna Rosling Rönnlund und Ola Rosling geehrt. Die beiden Forscher sind führende Köpfe der Gapminder-Stiftung und Mitautoren des Buches ‚Factfulness. Sie haben mit ihrem Engagement dazu beigetragen, ein positives Bild von fachlich richtig durchgeführten Datenwissenschaften zu kommunizieren, so Knapp: „Die beiden Persönlichkeiten sind aufklärerisch tätig, um uns bessere Entscheidungen zu ermöglichen. Sie wollen mit anekdotischem Halbwissen aufräumen und tragen daher permanent Zahlen zur Entwicklung der Gesellschaft zusammen und stellen diese verständlich dar – die vornehmste Aufgabe des Researchers.“ Mehr zu den Persönlichkeiten des Jahres 2023
Sehen, wie die Welt wirklich ist
Um Datenkompetenz und Faktenrelevanz ging es dann auch in der Keynote der zuvor geehrten Persönlichkeit des Jahres Anna Rosling Rönnlund. In ihrem Vortrag setzte sie sich mit der Suche nach zuverlässigen Quellen für ein faktenbasiertes Weltbild auseinander. Sie führte aus, warum die meisten Menschen Daten falsch interpretieren und damit globale Trends sehr viel negativer einstufen als sie tatsächlich sind. Sie zeigte gängige Missverständnisse auf, die unser Weltbild prägen, und setzte dem Factfulness und Denkmethoden entgegen, die helfen können, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Noch nie habe es so viele Zahlen, Daten und Fakten gegeben, auch initiiert durch zahllose Studien der Branche. Die Gesellschaft müsse lernen, damit umzugehen, so die Preisträgerin: „Denn wer Zukunft planen will, muss erst einmal die Realität verstehen.“
„Tun Sie ab und zu mal was Verrücktes!“
Den nicht ganz ernst gemeinten Abschluss des Kongresses lieferte schließlich Vince Ebert. Der Physiker und Kabarettist, ein bekanntes Gesicht der deutschen Wissenschafts- und Unterhaltungsszene, warf einen ebenso witzig-geistreichen wie intelligenten Blick darauf, wie man Daten klug oder weniger klug nutzen kann: So erfuhr das Kongresspublikum nicht nur, warum Ebert im Supermarkt Dinge kauft, die überhaupt nicht zusammenpassen, sondern auch, wodurch ein klarer Blick auf die Welt häufig verhindert wird: durch Voreingenommenheit und Überkomplexität. Das Gebot der Stunde sei daher, Daten klug zusammenzuführen. Eine Aufgabe, die allein dem Menschen obliegt, denn „Computer rechnen und Gehirne verstehen“, so der Wissenschaftskabarettist. Wer nur Katastrophen und Untergänge voraussehe, beraube sich seiner Chancen: Um die Welt zu verbessern und Probleme zu lösen, seien Kreativität, Mut und Visionen gefragt. Sein Appell zum Kongressende: „Tun Sie ab und zu mal was Verrücktes! Denn wenn wir nie einmal etwas Bescheuertes getan hätten, wäre auch nie etwas Vernünftiges herausgekommen!“
Ein gelungenes Finale eines facettenreichen, inspirierenden und nicht zuletzt mutmachenden Kongresses. Ein Fazit, dem zum Veranstaltungsabschluss auch der BVM-Vorstand zustimmte: „Wir hatten eine gute Leistungsshow – ein innovatives Gesamtpaket, das Optimismus verbreitet hat“, so Dr. Frank Knapp. An diesen Erfolg wolle man beim Kongress 2024 in Leipzig auf jeden Fall anknüpfen.