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Wie geht Ausbildung in der Marktforschung in Zeiten von KI? Ein Essay von Prof. Dr. Holger Lütters, HTW Berlin

Eine Empfehlung an Studierende der Betriebswirtschaftslehre lag immer schon im Wunsch der Erweiterung des eigenen Horizonts durch extracurriculare Lerneinheiten. Meine scherzhaft gemeinte Empfehlung: “Wenn Sie auf Nummer sicher gehen wollen, dann machen Sie am besten etwas mit Holz!” Dieser schlechte Witz wird gerade von der Realität überholt.

Künstliche Intelligenz (KI) verspricht tiefgreifende Veränderungen in vielen Branchen, einschließlich der Marktforschung. Diese Entwicklung zwingt uns, unsere Herangehensweisen und Rollen zu überdenken. Wie positioniert sich die Marktforschung in dieser dynamischen Zeit? Welche Rolle spielen Marktforscher in der Zukunft? Woher kommen sie und welche Fähigkeiten benötigen sie? Werden sie überhaupt noch benötigt?

Als Hochschullehrer/innen stellen wir uns im Kollegium beinahe täglich die Frage, wie unsere Bildung denn in Zukunft ausgestaltet werden muss, um gegen diese allwissende und nie ermüdende Wissensmaschine antreten zu können. Allerdings sind auch wir gefangen in einem hierarchischen System verschiedener etablierter Bildungsstufen mit formalisierten Zugangsvoraussetzungen vom Abitur bis zur Habilitation. Im Handelsblatt wurde die Clickbaiting-Schlagzeile verwendet, dass Prompting Skills bereits den Doktortitel ersetzen können (zumindest bei der Gehaltserwartung). Es fällt den Menschen in etablierten Systemen aber sehr schwer, sich von gelernten Mechanismen auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu verabschieden.

Jack Ma, der Gründer von Alibaba hat bereits vor dem KI-Hype dazu eine sehr klare Meinung verbreitet. Er postuliert das Ende des Faktenlernens und der reinen Wissensvermittlung. Kompetenzentwicklung sollte im Fokus stehen und dabei eine Konzentration auf die originären menschlichen Stärken stattfinden. Zentrale Kompetenzen, bei denen der Mensch vielleicht noch mit der künstlichen Intelligenz im Wettbewerb bestehen könnte sind nach Ma z. B.:

  • Kreativität und Innovation
  • Emotionale Intelligenz (Empathie, soziale Kompetenzen)
  • kritisches und eigenständiges Denken
  • Teamfähigkeit und Kollaboration

Unser derzeitiges Bildungssystem ist insgesamt sehr schlecht auf die Entwicklung dieser Kompetenzen vorbereitet. Wesentliche Eckpfeiler unseres Bildungssystems müssten von Grund auf neu konzipiert und dabei ordentlich ausgemistet werden. Die Rolle von Lernenden und Lehrenden wäre neu zu definieren. In einer Welt, die von einem Reformstau in den nächsten übergeht, scheint dies das dickste aller zu bohrenden Bretter.

Klar ist, dass wir im Bereich Lebenslanges Lernen Defizite zu beklagen haben. Andere Berufe halten sich durch verpflichtende Fortbildungsnachweise up to date, aber die Mehrzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer scheint ohne Verpflichtungen zur Weiterbildung durch das gesamte Arbeitsleben zu kommen. Auch die großartigen Weiterbildungsangebote des BVM werden von motivierten Menschen freiwillig wahrgenommen. Einen Nachweis über die Aktualisierung des Wissens fordert unser Berufsstand nicht.

Im Moment kann ich dieses Versäumnis sogar gutheißen, da im KI-Zeitalter selbst eine Orientierungslosigkeit vorherrscht im Hinblick auf die zukünftig erforderlichen Kompetenzen. Bill Gates gibt zu Protokoll, dass bereits in 10 Jahren für viele Tätigkeiten keine Menschen mehr gebraucht werden. Auch die vollständige Transformation der Bildung wird von ihm benannt.

Wir müssen unsere Anpassungsfähigkeit erhalten

Es geht also in naher Zukunft nicht mehr primär um konkrete Wissensvermittlung, sondern eher um das Phänomen der mangelnden Veränderungsbereitschaft unserer Welt. Wir müssen uns ändern wollen. Ansonsten werden uns dramatische Änderungen aufgezwungen.

Wir müssen unsere Anpassungsfähigkeit erhalten, um wiederkehrend über lange etablierte Routinen immer wieder kritisch nachzudenken. Die Marktforschung ist hierbei nicht automatisch gut aufgestellt, da sie gerne auch an etablierten Prozeduren festhält und sich erst öffnet, wenn der Damm gebrochen scheint. Als Online-Marktforscher der ersten Generation ist mir noch bestens im Gedächtnis, wie schwer sich die Branche mit einer neuen Technologie namens Internet getan hat, anstatt die sich bietenden Chancen der neuen Zeit unmittelbar zu ergreifen. 

In Bezug auf Veränderungsbereitschaft scheinen wir Marktforscher und Marktforscherinnen nicht die Vorreiter von Entwicklungen zu sein. Im Gegenteil: Wir geben uns Regeln und Selbstverpflichtungen, die andere Branchen überhaupt nicht kennen. Aus einer oft unbegründeten Angst schaffen wir uns ein immer schwerer werdendes Korsett, was die Anpassungsfähigkeiten nicht erhöht.

Als Beispiel hierfür möchte ich das immer wieder diskutierte Trennungsgebot zwischen Marktforschung und Marketing benennen. Eine Selbstverpflichtung, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung sinnvoll war, sollte regelmäßig auf ihren Effekt auf die Branchenteilnehmer/innen überprüft werden. Die Werbebranche ihrerseits kennt ein solches Trennungsgebot nicht und fängt bereits an, eigene MaFo-Studien mit KI umzusetzen.

Ausblick: Mehr Marktforschung, weniger Menschen

Es wird mehr Marktforschung geben als je zuvor. Nur mit viel weniger Menschen!

Die künstliche Intelligenz ermöglicht die Integration typischer Marktforschungsfragestellungen bereits in frühen Prozessstufen des Marketings. Eigentlich eine gute Botschaft, wenn Marktforschung in Zukunft viel intensiver genutzt wird. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass es in jedem Fall viel weniger menschliche Interaktionen benötigt. Es werden weniger Menschen als Teilnehmer in Studien benötigt und weniger Menschen werden als Marktforscher/innen diese Studien leiten, durchführen, auswerten und interpretieren dürfen. Im Extremfall wird kein Marktforscher mehr zur Marktforschung eingesetzt.

Dieser Herausforderung können wir nicht mit besserer Mathematik, anspruchsvollen Methoden oder neuen Tools begegnen, sondern nur mit ausgeprägter Anpassungsfähigkeit an die sich ständig ändernde Umwelt.

Radikales Umdenken wird erforderlich, bevor wir ein neues Curriculum in der Aus- und Weiterbildung etablieren. Dies gilt von der Grundschule bis zum Post-Doc-Studium.

Der Artikel ist erschienen im Jahrbuch der Marktforschung 2025 (Herausgeber: BVM Berufsverband Deutscher Markt- und Sozialforscher)

Es gibt einige Quellen, die sich bereits mit dem Umgang mit KI beschäftigen. Hierbei möchte ich auf den neuen Begriff der KI Convenience verweisen, der das Phänomen der einfachen Übernahme von KI generierten Inhalten ohne Kontrolle und kritische Hinterfragung bezeichnen soll. Als Gesellschaft und als Individuum müssen wir erst lernen, mit den KI generierten Inhalten umzugehen. Die Gefahr der generellen Verflachung bis hin zur vollständigen Verblödung ist dabei gegeben. Als Gesellschaft müssen wir uns die Frage stellen, was wir Menschen überhaupt noch tun können und worin unsere Aufgabe bestehen wird? Viele dieser Themen werden auf einer deutlich höheren Flughöhe als der Marktforschung verhandelt. Für alle gilt aber: Experimentieren Sie doch mal mit Holz!