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Kongress der Deutschen Marktforschung 2019 - Nachlese

Mittendrin statt nur dabei!

Zukunftsfähige Innovationen, die helfen, den Menschen zu verstehen

Die Zukunft der Markforschung hat viele Gesichter, so das Résumé des 54. Kongresses der Deutschen Marktforschung in Hamburg, der von rund 300 Fach- und Führungskräften der Branche besucht wurde. Unter dem Motto „Kluge Lösungen für den wirtschaftlichen Erfolg: Neue, agile und integrierte Ansätze“ zeigten Business-Insider anhand von Case Studies vielfältige, kreative und innovative Wege auf, die die Markforschung Richtung Zukunft führen. Daneben gab es inspirierende Keynotes und praxisrelevante Preisträgervorträge sowie jede Menge Gelegenheit zu Kommunikation und Networking.

„Braucht man die Markforschung künftig noch?“, fragte Moderator Jan Hofer den BVM-Vorstandsvorsitzenden Dr. Frank Knapp zu Kongressbeginn. „Der Markforscher muss über Empathie, Kommunikationsfähigkeit und Verständnis für den Kunden verfügen. Wenn wir den Kunden in den Mittelpunk setzen und Ergebnisse produzieren, die am Markt realisierbar sind, dann werden Markforscher auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen“, so Dr. Knapp. Agilität sei dabei ein entscheidendes Stichwort, allerdings werde der Begriff oft missverstanden: „Er bedeutet nicht, dass alles immer nur schnell gehen muss, sondern steht vor allem für Flexibilität, für flexibles Eingehen auf Veränderungen und innovative Ansätze, die wir gemeinsam mit dem Kunden entwickeln müssen“, so der BVM-Vorsitzende.

Die Maschinen sind vernetzt, die Köpfe nicht

Wie man mit Design Thinking eine Kultur der Agilität schafft, verdeutlichte Prof. Dr. Ulrich Weinberg, Leiter der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam, direkt im Anschluss. In seiner Keynote  zeigte er auf, dass die Digitale Transformation mehr ist als die Einführung neuer Technologien: Es gehe vor allem um einen fundamentalen Kulturwandel, weg vom IQ-Modus hin zum WeQ-Modus mit dem Fokus auf Zusammenarbeit, Konnektivität und lebenslanges Lernen. “95 Prozent aller Unternehmen sind heute noch linear, d. h. im Brockhaus-Modus unterwegs – die Maschinen sind total vernetzt, die Köpfe aber nicht“, so Prof. Weinberg. Es sei zwingend notwendig, in den Network-Modus umzuschalten und dabei unterstütze die HPI School of Design Thinking Studierende und Führungskräfte, indem sie sich auf drei Kernelemente – multidisziplinäre Teams, variabler Raum und iterative Prozesse – konzentriere. „Mit diesem schönen Dreiklang können wir die Lern- und Arbeitskultur in Richtung Agilität verändern“, resümierte der Vordenker in Sachen Network-Thinking.

Im Anschluss eröffnete Tobias Krafft, einer der ersten Absolventen des noch jungen Studienganges Sozioinformatik an der TU Kaiserslautern, das Fachprogramm: Er zeigte sich davon überzeugt, dass die Sozioinformatik mit ihren interdisziplinären Ansätzen aus Informatik, Sozialforschung und Wirtschaft der Marktforschung wichtige Impulse für die digitale Transformation und insbesondere ihre gesellschaftliche Komponente liefern könne.

Mittendrin statt nur dabei!

Dirk Ziems, cocept m research + consulting, und Jörg Nommensen, elements of art, führten in den ersten Kongresschwerpunkt „Agil, Co-Creative und mit dem Menschen im Mittelpunkt“ ein, indem sie die Entwicklung eines innovativen Kinder-Saft-Produktes mit dem True-Depth-Panel  – einem Tool, das auf den agilen Innovationsprozess zugeschnitten ist – vorstellten. Bastian Verdel, StraightONE, zeigte in seinem Erfahrungsbericht, wie der Bosch-Konzern mit einem verhaltensökonomischen Forschungsansatz herausfand, dass der Nutzen digitaler Assistenten für den Konsumenten wichtiger ist als die Privatsphäre. „Unternehmen sollten sich daher bei der Produktentwicklung in erster Linie auf den Benefit fokussieren, Privacy im zweiten Schritt aber auch sicherstellen“, so der Referent.

Über ihre Kundensafaris, die unter dem Motto „mittendrin statt nur dabei“ stattfinden, berichteten Christiane Schmitz-Trebeljahr, The Lifesights Company, und Michaela Thielen, CEWE Stiftung: Durch den Einsatz interaktiver Tools wie Co Creation-Workshops generieren sie gemeinsam mit den Kunden erlebbare Insights und erhalten ein tiefgreifendes Konsumentenverständnis für die Entwicklung neuer, kundenrelevanter Produkte. Heiko Lorenzen, DeutschlandCard, und Anne Seemann, eye square, präsentierten anhand des Fallbeispiels „Hätte, hätte…Wunsch erfüllt“, wie sie sich mithilfe iterativer UX-Tests einer agilen und nachhaltigen Form der Produktentwicklung genähert und dabei die App für die DeutschlandCard verbessert haben.

Zum Abschluss des Fachprogramms erfolgte die Verleihung des Preises der Deutschen Marktforschung in zwei Kategorien und die Bekanntgabe der Gewinner des Data Science Cup 2019.

Abendevent im maritimen Ambiente

Zur Abendveranstaltung lud der BVM auf das Museumsschiff Rickmer Rickmers, dem schwimmenden Wahrzeichen Hamburgs. Auf dem Windjammer von 1896 standen geselliger Austausch und Networking in lockerer Atmosphäre an erster Stelle. Ein Sektempfang auf Deck mit fantastischem Ausblick auf die St. Pauli Landungsbrücken begrüßte die Gäste, danach gab es mit der Verleihung des Preises für besonderes Engagement in der Marktforschung einen letzten offiziellen Programmpunkt. Im maritimen Ambiente unter Deck erwartete die Gäste ein Abendbüffet mit hanseatischen Köstlichkeiten und jede Menge Musik: Bevor DJ Merlin zu vorgerückter Stunde zum Zuge kam, heizte die Funk-Rap-Deluxe-Band „ Make A Move“ mit ihrer energiegeladenen Tanzmusik die Stimmung an. Die feurige Mischung aus Funk, Disco, Reggae und Balkan bewegte so manche Füße und ging ins Ohr.

Wer den Abend ruhiger ausklingen lassen wollte, nutzte die Rückzugszonen des historischen Frachtenseglers für Begegnungen, Gespräche und Networking – und das bis in die späte Nacht hinein.

KI ist strunzdumm!

Der zweite Kongresstag startete mit einer wunderbar unterhaltenden Keynote von Prof. Dr. Gunter Dueck, freischaffender Schriftsteller, Business-Angel und Speaker. „KI ist strunzdumm! Alle, die programmieren können, wissen das!“, behauptete der frühere Mathematikprofessor und IBM-Manager direkt zu Beginn seines anekdotenreichen Redebeitrags. In satirisch-sarkastischem Stil stellte er seinen unkonventionellen Denkansatz der vier Ichs vor, um abschließend noch einmal davor zu warnen, „sich nicht von der künstlichen Intelligenz dominieren zu lassen, weil wir uns sonst auf das Niveau der KI hinabbegeben. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir alle domestiziert“, so der Vor- und Querdenker. Ein ungewöhnlicher Vortrag, der das Publikum zum Lachen und vor allem zum Weiterdenken anregte. Der aber auch bestens dazu geeignet war, humoristisch in den folgenden Kongressschwerpunkt „Versteht die künstliche Intelligenz den Menschen?“ einzuführen.

Es folgten Case Studies, die besonders innovative Einsatzgebiete von KI aufzeigten, aber auch eines klar stellten: Der Mensch wird aufgrund von Fähigkeiten wie Empathie, Kreativität oder Intuition auf absehbare Zeit unentbehrlich bleiben.

Zunächst ging es um die Messung von Nutzeremotionen durch Affective Computing, vorgestellt von Prof. Dr. Alexander Hahn, TH Nürnberg, und Dr. Michael Bartl, HYVE. Die beiden zeigten u. a. auf, wie man mit biometrischen Daten flow oder emotionale Interaktion ableiten und so echte user experience messen kann. Maximilan Rausch von Kantar Analytics Practice Deutschland präsentierte, wie sich Choice Models und Chatbots kombinieren lassen und welcher Mehrwert sich daraus ergibt: Choice Models sind besonders geeignet, um Präferenzen für Produktmerkmale zu bestimmen, und Chatbots bieten die Möglichkeit, passive Befragungspersonen zu aktiven Anwendern zu machen.

Ein erfolgreiches Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen Mensch und künstlicher Intelligenz lieferte Dr. Dirk Schachtner von Consline mit seinem Customer Voice Monitoring-Ansatz: Auf Basis von Foren- und Social Media-Beiträgen hat er Kundenpräferenzen zu E-Fahrzeugen ermittelt, die für die kundenorientierte Entwicklung neuer E-Fahrzeuge genutzt werden können. Abschließend stellte Julia Görnandt von SKIM vor, wie sie online verfügbare Produkt- und Sternebewertungen mithilfe von Textmining und Treiberanalyse in Produktmerkmale umgewandelt hat, um zu verstehen, welche Produkteigenschaften für eine stärkere Kundenzufriedenheit sorgen.

Szenario Zukunft

Wohin die Reise Richtung Zukunft geht, verdeutlichte der dritte Kongressschwerpunkt „Szenario Zukunft“: Zunächst stellte Dr. Alexander Fink, ScMI Scenario Management International, sehr praxisnah und lebendig dar, wie BMW Motorrad die Zukunft des globalen Motorradmarktes vorausdenkt: Dazu wurden neun Szenarien entwickelt, für die jeweils Chancen, Gefahren und Handlungsoptionen abgeleitet wurden. „Diese verbessern den Blick auf Trends, steigern die Agilität und die Fähigkeit, auf Marktveränderungen zu reagieren“, so der Referent, der zum Kongressende den Publikumspreis für den besten Kongressvortrag erhielt und mit dem Ulrike Schöneberg Award ausgezeichnet wurde.

„Man muss Vergangenheit und Gegenwart verstehen, um Zukunft zu antizipieren“, erläuterte Charlotte Hager, comrecon brand navigation, ihren Ansatz der Zukunftsmodellierung. Mit einem kreativen Methodenmix ist sie der Frage nach der Audionutzung im Jahr 2025 nachgegangen. Über Online-Foren erhielt sie Einblicke in den Audionutzungsalltag, um dann mit Lego® Serious Play® die Zukunft abzubilden. Über den „Sehnsuchtsraum zwischen Heute und Morgen. Zukunftsforschung reloaded“ referierte Dr. Hannes Fernow, GIM Gesellschaft für innovative Marktforschung. Er stellte seinen methodischen Ansatz – eine Kombination aus Trend- und Sekundärforschung – sowie ausgewählte Ergebnisse vor, die u. a. Sehnsüchte, Befürchtungen, Hoffnungen und Zufriedenheiten der Zukunft  widerspiegelten. Einblicke in die Marktabsatzprognose nicht existierender innovativer Produkte gab Hans-Konrad Scherer, Statista GmbH, am Beispiel eines rahmenlosen Navigationsgerätes. Dabei präsentierte er ein flexibles Prognosemodell, mit dem Kunden eigenständige Analysen durchführen können: „So können Sie der Zukunft gelassen entgegensehen“, betonte der Referent.

Ideen für die Marktforschung

Last but not least folgten zum Kongressabschluss „Gedankenspiele für unsere Zukunft.“ Hier präsentierten sich unter aktiver Einbindung des Publikums die Einreichungen zum Thema „Ideen für die Marktforschung“.

Patricia Blau von GIM Gesellschaft für Innovative Marktforschung beschäftigte sich mit der Zukunft der qualitativen Marktforschung. „Ich präsentiere heute keine neuen Methoden oder Innovationen“, begann Blau ihren Ideenvortrag: „Ich zeige vielmehr, wie sich die Branche selbst sieht und wie sie die Zukunft sieht.“ Ihre Einreichung gründete auf den Ergebnissen der Slow-Dating-Veranstaltung „AKQua meets forUM“ vom November 2018. Zunächst identifizierte die Referentin acht Themen der qualitativen Forschung, die zuvor als besonders relevant für Gegenwart und Zukunft eingestuft wurden. Ausführlicher ging Blau dann auf das Thema „Turm der Weisen“/Experten-Tools.ein, das die meisten Kongressteilnehmerstimmen auf sich vereinen konnte, bevor sie das Selbstverständnis des qualitativen Forschers der Zukunft als „Transfer-Hero“ erläuterte.

Christian Dössel und Thomas Methner vom Forum Grenzgänger stellten ebenfalls den Marktforscher der Zukunft ins Visier ihrer Betrachtung. Um herauszustellen, welche Profile und Charaktere aktuell in der Branche zu finden sind und welche in Zukunft gebraucht werden, wurden im Vorfeld sieben Marktforscher-Personas entwickelt. Die Teilnehmer hatten auf dem Kongress die Möglichkeit, über die Zukunftsfähigkeit der verschiedenen Personas abzustimmen. Das Ergebnis: „Der Stratege“, „der Vordenker“ und „die Pragmatikerin“ waren aus Sicht des Kongresspublikums die zukunftsfähigsten Branchenakteure.

Im Anschluss entwickelte sich eine lebendige und teilweise kontroverse Diskussion zum künftigen Berufsbild des Marktforschers. So war es Prof. Dr. Raimund Wildner wichtig, eine Lanze für den „Wissenschaftler“ zu brechen: „Wissenschaft findet heute in Teamwork statt“, betonte der Vorsitzende des Rats der Deutschen Markt- und Sozialforschung. Alles, was Marktforschung mache, müsse wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert sein, so Prof. Wildner weiter. Dr. Frank Knapp war die Unterteilung der Personas „etwas zu prototypisch und pessimistisch“. Er wies daraufhin, dass in großen Organisationen fast alle genannten Marktforschertypen vorkämen und ihre Daseinsberechtigung hätten

Gelungener Kongress – zufriedene Besucher

Blieb am Ende nur noch die seit Jahren obligatorische und stets treffende Kongress-Zusammenfassung des Moderators Jan Hofer. Er brachte die Themen der beiden Kongresstage noch einmal messerscharf auf den Punkt, verwies auf spannende Einblicke in die Zukunft der Marktforschung, ein fulminantes Fest auf der Rickmer Rickmers und viel Gelegenheit zu Gesprächen, Austausch und Networking. „Der Kongress hat uns anschaulich gezeigt, welche vielfältigen, kreativen und innovativen Wege unsere Branche Richtung Zukunft beschreitet“, betonte auch BVM-Vorstandsvorsitzender Dr. Frank Knapp, der sich zugleich über die zahlreichen positiven Feedbacks der Kongressbesucher freute, die den BVM bislang erreicht haben. „Der Erfolg des Kongresses ist nicht zuletzt all jenen zu verdanken, die an der Kongressplanung, -organisation und –durchführung, als Partner und Sponsoren sowie auf der Bühne mitgewirkt haben“, ergänzte BVM-Geschäftsführerin Ellen Didszus: Beiden liegt deshalb am Herzen: „Ein großes Dankeschön an alle für die wertvolle Unterstützung und auch an das Geschäftsstellenteam, das neben seinen vielen täglichen Aufgaben und Projekten mit großem Engagement ebenfalls zum guten Gelingen des Kongresses beigetragen hat."