Der Billigste gewinnt. Preis, Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Markt- und Sozialforschung. 16.02.2018 / Positionen / Fachgremium „Standesregeln, Qualität, Methoden“ im BVM-Fachbeirat
Ein Denkanstoß vom BVM-Fachgremium „Standesregeln, Qualität, Methoden“ zur Berichterstattung „Die Akte Marktforschung“ von Spiegel-Online.
Schon vor mehreren Jahren, spätestens seit der weltweiten Finanzkrise, ist der Preisdruck auf Marktforschungsanbieter erheblich gewachsen. Die Institute konnten ihre Preise am Markt nicht mehr durchsetzen und mussten Kosten durch Effizienzsteigerungen senken. Andererseits stiegen die Mieten, die Personalkosten ohnehin, Fachkräfte wurden rarer und teurer, der Mindestlohn wurde eingeführt.
Auch die Anforderungen der Kunden wurden immer höher: Studien dürfen nicht mehr drei Monate in Anspruch nehmen, sondern vielleicht höchstens drei Wochen. Machbar? Vielleicht!
In Ausschreibungen fanden sich zunehmend Gewichtungen der Wertungskriterien wie 100% Preis (also der billigste Anbieter erhält den Zuschlag), 70% Preis/30% Qualität (dto.). Die Qualitätsbewertung darf sich im Regelfall nicht auf bisherige Erfahrungen mit einem Institut stützen, sondern ausschließlich auf die im Rahmen der Ausschreibung eingereichten Angebotstexte.
Die Bewertung der preislichen Angemessenheit bzw. der sog. „Wirtschaftlichkeit“ von Angeboten erfolgt zunehmend durch Einkaufsabteilungen. Immer weniger wurde von Auftraggebern hinterfragt, ob die angebotenen Preise denn tatsächlich realistisch sind. Dabei wäre es doch mit ein wenig gesundem Menschenverstand möglich. Eine grobe Preisbewertung ergibt folgende Überlegung: Stellen Sie sich vor, ein Kunde im Supermarkt würde verlangen, dass ihm das Stück Butter statt für 1,79 EUR für 15 Cent verkauft würde. Die Begründung: Die Kassiererin war doch höchstens 2 Sekunden mit dem Verkauf beschäftigt, der regalbestückende Student vielleicht genauso lange. Absurd?
Um zu wissen, was ein realisiertes Interview tatsächlich kostet, kann man beispielsweise bei einem computergestützten telefonischen Interview überlegen: Ein Interviewer erhält vielleicht ein Stundenhonorar von 10 EUR. War es das? Nein, natürlich nicht! Der Interviewer muss grundsätzlich vorher geschult und eingewiesen werden. Hinzu kommen Kosten für die Miete des Telefonstudios, andere Arbeitsmittel, Strom, Heizung, die genutzte Befragungssoftware. Supervisoren weisen die Interviewer ein und kontrollieren sie – auch diese müssen bezahlt werden. Es entstehen natürlich Telefonkosten (je mehr Mobilfunknummern, desto teurer!), akademisch ausgebildete Projektleiter sind involviert, der Fragebogen muss programmiert werden. Das Telefonstudio muss gereinigt werden, die Technik gewartet und repariert, Lampen ausgetauscht, die Interviewerabrechnungen bearbeitet, die Honorare überwiesen werden usw. Dies alles summiert sich für eine Arbeitsstunde pro Interviewer etwa noch einmal auf etwa 10 EUR. Diese hohen Nebenkosten haben dazu geführt, dass viele Institute sich in den letzten Jahren dazu entschlossen haben, ihre eigenen Telefonstudios zu schließen und stattdessen eine oder mehrere der vorhandenen Feldorganisationen zu beauftragen. Durch hohe Auslastungen können diese vielleicht etwas günstigere Preise anbieten, aber grundsätzlich entstehen dort nahezu identische Kosten. Das heißt in unserem Beispiel, dass jede Arbeitsstunde eines Telefoninterviewers im Institut etwa 20 EUR Selbstkosten verursacht.
Nun möchte ein Kunde vielleicht 20-minütige Telefoninterviews in Auftrag geben. Jeder Interviewer kann etwa ein Interview pro Stunde realisieren, die restlichen 40 Minuten verbringt er damit, geeignete und willige Interviewpartner zu finden, die Software zu bedienen, die Antwortverweigerungen zu protokollieren usw. In unserem Beispiel würde ein Interview also etwa 20 EUR Selbstkosten verursachen. Da die Institute im Regelfall Wirtschaftsunternehmen sind, müssen sie natürlich auch eine (kleinere oder größere) Marge in ihre Preise kalkulieren, in diesem Fall vielleicht 20 Prozent, etwa für allgemeine Risiken, Auslastung, Gewinn. Daraus ergäbe sich in unserem Beispiel dann ein (realistischer) Angebotspreis pro Interview von 24 EUR. Wird dieser Preis jedoch angeboten, hört das Institut im Regelfall im Ergebnis einer Ausschreibung, dass es „selbstverständlich viel zu teuer“ sei. Natürlich!?
Der Auftrag wird dann – vielleicht – zu einem Angebotspreis von 15 EUR pro Interview vergeben. Vielleicht hat das beauftragte Institut kein eigenes Telefonstudio (mehr) und vergibt den Auftrag deshalb an ein reines Feldinstitut als Subunternehmer. Nach Abzug der Institutsmarge kommen dort vielleicht noch 12 EUR pro Interview an. Um einigermaßen kostendeckend zu „produzieren“, müsste das Feldinstitut also zwei Interviews pro Stunde durchführen statt nur einem, das ist jedoch meist nicht möglich.
Wie man sieht, sind einseitige Schuldzuweisungen also eher fehl am Platze. Vielmehr muss eine schon immer qualitätsbewusste Branche sich fragen, wie es dazu kommen konnte, dass sie in einigen Fällen möglicherweise zu einer preisgetriebenen Branche wurde. Diese Frage müssen sich aber nicht nur Institute und Felddienstleister stellen, sondern auch die Auftraggeber, die wissenschaftlich fundierte und verlässliche Studien für ihren Unternehmenserfolg dringend benötigen. Viele Auftraggeber wissen das und handeln entsprechend, einige wissen es (noch) nicht. Aufklärung und mehr Transparenz sind deshalb nötig – in jeder Hinsicht.
Das Fachgremium hat in den vergangenen zwei Jahren bereits verschiedene Hinweise und Hilfestellungen entwickelt (s. Leitfäden zur Qualität in der Marktforschung) und widmet sich weiter intensiv der Thematik, um langfristig eine realistische Einschätzung von Preis und Qualität in der Marktforschung zu fördern.